Tungendorf Archiv - Tungendorfer Geschichten - Kindheit und Jugend
Alle Fotos: Carl Cords
Erlebnisse aus meiner Tungendorfer Kindheit und Jugend
Von Hartmut Cords
Früher, nach dem Krieg, wurden wir Kinder oftmals zum Einkaufen losgeschickt. Wir wurden damals mit Taschen, Beuteln, Tüten und manchmal auch mit einer Milchkanne ausgerüstet. Ich erinnere mich noch an einen Tag. Ich sollte zwei Einkäufe erledigen, einmal einen Einkauf bei Frau Thiel, und außerdem führte mich mein Weg zu unserem Schuster. Frau Thiel verkaufte Sachen für den Haushalt: Zucker, Mehl, Rosinen usw. Sie hatte die Waren in großen, eckigen Gläsern abgefüllt, die sie mit Schaufelkellen entleeren konnte, um uns die richtigen Portionen in Tüten abzufüllen. Ein solcher Glasbehälter war auch mit Bonbons gefüllt. Da durfte man einmal zugreifen. Der Einkaufsladen von Frau Thiel lag von uns aus gesehen in Richtung auf Kiel unmittelbar vor dem großen Grundstück des Fordhändlers Fröhling. Zwischen den beiden Grundstücken gab es noch einen Chausseebaum. Der Schuster hatte seine Holzhütte hinter dem Grundstück des Fordhändlers. Ich stand vor dem Chausseebaum und überlegte, wie das mit dem Einkaufsgepäck am günstigsten sein würde. Sollte ich erst zum Schuster gehen und dann zu Frau Thiel oder umgekehrt? Meine Wahl fiel auf Frau Thiel. Als ich die Stufen zu ihrer Eingangstür hinaufgestiegen war, drehte ich mich noch einmal um. Da kam ein Lastwagen aus Richtung Kiel gefahren. Der geriet ins Schleudern, prallte seitlich gegen den Chausseebaum und ergoss seine gesamte Wagenladung über den Vorplatz von Fröhling. Es muss wohl auch Glatteis im Spiel gewesen sein. Bei der Ladung handelte es sich um jede Menge Käseroller, die auf dem Vorplatz dahinpurzelten oder auch rollten. Es gab auch lautes Wehgeschrei. Eine Frau versuchte sich mühsam zwischen all dem Käse wieder auf die Beine zu heben. Letztlich war wohl kein ernsthafter Personenschaden entstanden. Mir wurde plötzlich bewusst, welch ein unverschämtes Glück ich gehabt hatte. Denn hätte ich mich vorher entschieden, erst zum Schuster zu gehen, dann wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach genau dort auf Fröhlings Vorplatz gewesen, wo sich der Unfall abgespielt hatte. So etwas kann noch nachträglich schockieren.
Die Tatsache, dass die Frau auf der Ladefläche des Lasters gehockt hatte, war nicht untypisch für die damalige Zeit. Viele suchten nach einer billigen Mitfahrgelegenheit. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater so etwas für uns auch einmal arrangiert hatte. Wir sollten mit einem Lastzug nach Hamburg mitgenommen werden. Mein Vater und ich, wir mussten um sechs in der Frühe bereitstehen, um abgeholt zu werden. Wir waren bereit. Aber es kam keiner, der uns abholte. Stattdessen kam ein Telefonanruf von einer Telefonzelle am Großflecken. Der Fahrer hatte uns total vergessen und wollte auch nicht mehr umkehren. Ich war damals so verärgert, dass ich den Vorfall bis heute nicht vergessen habe.
Was unseren Schuster angeht, kann ich auch noch eine Geschichte beitragen. Der Schuster hieß Mross. Da gab es zwei Konsonanten am Namensanfang. Das stört im Allgemeinen jeden, der den Namen aussprechen soll. Wir hatten uns zu Hause auf ein vorab ausgesprochenes stimmhaftes M, gefolgt von einem Ross geeinigt – also M-Ross. Um die Angelegenheit zu klären, habe ich M-Ross eines Tages mal gefragt, ob es eine Möglichkeit gäbe, seinen Namen etwas flüssiger auszusprechen. Die Antwort kam prompt und sehr flüssig. Es war Mors. Damit waren wir auch nicht besonders zufrieden.
Vorsicht, bissiger Hund! Ein Grundstück weiter hinter dem Schuster lag das Grundstück des Malermeisters und Spritzlackierers Langbehn. Wir hatten uns einen alten und zerschundenen Pkw angeeignet. Den wollte ich etwas verschönern und bekam von Herrn Langbehn das Angebot, den Wagen bei ihm günstig spritzen zu lassen. Alle Vorarbeiten wie Putzen und Schmirgeln sollte ich selbst machen. Ich musste auf dem Vorplatz arbeiten. Da gab es einen Hofhund, einen Schäferhund mit viel pelzigem Fell. Ich kam mit dem Hund gut klar. Es war ein sehr schönes Tier. Nur dieser Hund hatte eine besondere Macke. Ich konnte das eines Tages beobachten. Es gab da einen Besucher, d. h einen Kunden von Langbehn. Der kam mit seinem Fahrrad und wollte auch den Vorhof mit seinem Fahrrad wieder verlassen. Beim Verlassen lief der Hund hinterher, überholte den Fahrradfahrer und biss ihm von vorn in den Vorderreifen. Als das mit dem PFFfffff vorbei war, war der Hund sichtlich zufrieden und trollte sich davon. Für mich war die Geschichte damit noch nicht zu Ende. In einem nachfolgenden Schlaf hatte ich einen Traum. Ich war mit meinem Moped unterwegs und wollte damit den Langbehnschen Hof verlassen. Der Hund kam mir nachgelaufen und ich wusste genau, was passieren würde. Das wollte ich verhindern und holte im Traum mit meinem rechten Bein zu einem gewaltigen Fußtritt aus. Das Ergebnis war für mich nicht sehr günstig, denn ich hatte den Fußtritt richtig ausgeführt. Ich schlief in einer Dachkammer und hatte mit meinem Fußtritt den Putz von der schrägen Wand losgetreten. Die Bettdecke war auch nicht heil geblieben, und mit der Verletzung am Fuß hatte ich noch lange zu tun. Einen solch intensiven Traum habe ich nie wieder erlebt.
Trauriges Ende Neben Frau Thiel gab es noch einen zweiten Kaufmann in unserer Nähe, bei dem wir z. B. den Bedarf für die Küche decken konnten. Das war Kaufmann Theesen. Er hatte sein Geschäft in Richtung auf die Stadt Neumünster neben dem Bäcker Gabrielsen. Der Bäckerladen lag auf der Ecke zur Schulstraße. Herr Theesen hat seinen Laden bis ins hohe Alter geführt, bis er durch Vergesslichkeit behindert war. Manchmal fand er seinen Weg zurück nach Hause nicht mehr. Eines Tages war er nicht mehr zurückgekommen. Mein Vater sagte, er hätte halb Tungendorf einschließlich der Schulkinder mobilisiert, um Herrn Theesen wieder aufzufinden. Eines Tages fand man ihn. Er saß in einem Knick und hielt zwei Triebe des Gebüsches mit den Händen fest umklammert. Das war ein bedauerlicher Abgang für jemanden, der unser Leben in der näheren Umgebung jahrelang mitbegleitet hatte.
Nochmal gutgegangen! Eine weitere Geschichte aus meiner Tungendorfer Jugend fällt mir noch ein. Eines Tages kam ich etwas spät am Abend von einem Kinobesuch oder einer Tanzveranstaltung nach Hause. Ich konnte sehen, wie zwei Männer Gabrielsens Ladenscheibe mit ihrem Urin besudelten. Ich wollte eigentlich nichts damit zu tun haben. Aber irgendwie mussten die beiden meine missbilligenden Blicke gespürt haben. Jedenfalls drehten sie sich um, kamen zu mir auf die andere Straßenseite und packten mich an der Jacke. Nun hatte ich vom vorhergehenden Regen meinen Faltregenschirm wieder zusammengeklappt und mit der dazu gehörigen Hülle versehen. Das war so gesehen ein ansehnlicher Knüppel, den ich den beiden über die Finger schlug, um wieder von ihren Griffen freizukommen. Im Anschluss daran ergriff ich sofort die Flucht. Die beiden setzten sofort zur Verfolgung an. Offenbar waren sie stark alkoholisiert und hatten nicht die nötige Koordinationsfähigkeit. Jedenfalls verhedderten sie sich mit ihren vier Beinen und landeten platsch in der Regenpfütze. Ich hatte mich wohlweißlich nicht zu unserem Zuhause geflüchtet, sondern war auf das Grundstück von Kohlenhändler Krohn gelaufen, wo ich mich gut auskannte. Die beiden hätten mich dort nie aufgespürt. Mein Ablenkungsmanöver wurde aber bedauerlicherweise durchkreuzt. Meine sorgenvolle Mutter hatte schon hinter dem Fenster auf mich gewartet und gesehen, wie ich dort vorbeilief. Sie hat ganz schnell die vielen Haken zu unserem Doppelfenster entfernt, das Fenster aufgerissen und mir etwas nachgerufen. Ich hatte davon schon nichts mehr gehört. Aber die beiden Banausen wussten jetzt, wo sie weiterhin Randale machen konnten. Sie haben tatsächlich über den Hofeingang meine Eltern bedrängt. Die hatten allerdings die Polizei angerufen.
Ich hatte inzwischen nichts mehr von meinen Verfolgern gesehen und geglaubt, dass sie sich wohl irgendwo verlaufen hatten. Weit gefehlt – als ich nach Hause kam, standen die beiden bei uns im Hausflur. Die Situation war aber inzwischen entschärft. Der eine der beiden Übeltäter war unter dem Eindruck der Vorwürfe wie Hausfriedensbruch, Überfall und „die Polizei kommt gleich“ nüchtern und ganz still geworden. Der zweite war auch einigermaßen still, weil er nichts anders konnte. Mein Vater hatte ihn in den Schwitzkasten genommen. Das blieb so, bis die Polizei kam und die beiden mitnahm. Am folgenden Sonntagmorgen haben wir sie noch einmal gesehen. Da kamen sie in Begleitung eines Polizeibeamten und haben sich bitterlich, weinerlich dafür entschuldigt, dass sie uns belästigt haben. Sie wollten damit erreichen, dass wir keine Anzeige erstatten. Mein Vater als friedliebender Mensch hat dem zugestimmt.